Erzählkunst als Kulturgut

Prof. Kristin Wardetzky, UdK Berlin
Prof. Kristin Wardetzky, UdK Berlin

Zum Vortrag von Prof. Dr. paed. Dr. sc. phil. Kristin Wardetzky, UdK Berlin

Erzählen ist eine der Grundformen unserer Kultur und für die Kultur- und Menschheitsentwicklung essenziell. Erzählen ist der Ausgangspunkt für die Entstehung des Theaters, aber auch für die Philosophie oder das Rechtssystem, so Frau Prof. Wardetzky.
Gerade im Zeitalter der Digitalisierung sieht Wardetzky Erzählen als ein zu schützendes Kulturgut und die Erzählkunst vor einer großen Herausforderung. Sie müsse sich der Digitalisierung erwehren und Räume für persönliche (Face-toFace) Begegnungen zurückerobern.

Erzählen als Königsweg zum Spracherwerb

In ihrem Vortrag schildert Wardetzky, wie sich Erzählen als ein Königsweg bewährt hat, um besonders junge Migrantinnen und Migranten an die deutsche Sprache heranzuführen. Dabei sind vorallem Erzählerinnen im Einsatz in sogenannten Willkomensklassen, in denen die Schülerinnen und Schüler Deutsch lernen bevor sie in die regulären Klassen kommen. Erzählt werden dabei vor allem internationale Märchen und Geschichten.

Frau Prof. Wardetzky und andere Erzählerinnen kommen zu Wort (Erzählkunst e.V.)

Erzählen ist eine anthropologische Universalie, so Wardetzky, bei der es nicht nur auf die Worte und Sätze ankomme, sondern auch auf die Metasprache, wie die Stimmlagen oder die Körpersprache. Neben der Sprache gebe es weitere subtile Kanäle, die zu beachten seien.

Erzählen als Kunstform

Erzählen unterscheide sich dabei grundsätzlich vom Vorlesen, es sein flüchtiger und habe dabei eine selektive Funktion. Die Mündlichkeit mache Erzählen viel unmittelbarer und lebe von der Interaktion und direkten Rückmeldung zwischen Erzählenden und Zuhörenden.

Erzählen ist selbst eine Kunst und erfordere entsprechende Kompetenzen, wie z.B. ein poetischer Sprachgebrauch, entsprechender Sprachduktus, aber auch Wörter die nicht nur aus der Alltagssprache entliehen sind; es geht um ein erweitertes Vokabular und die Beachtung der richtigen Grammatik, also der durchgängigen Verwendung des Präteritum.

Weltweites Strukturmodell der Erzählung

Beim Erzählen folgt die Geschichte einer bestimmten Struktur: Der Beginn ist geprägt von einer besonderen Exposition, also beispielsweise einem Mangel oder einer Problemsituation. Darauf folgt zumeist die Isolierung, bei der die Helden in Not geraten und oft auch ausgegrenzt werden. Es folgt eine Konfrontation zumeist verbunden mit Komplikationen.
Der Klimax stellt den Höhepunkt einer erzählung dar, oft gefolgt durch retardierende Momente, bis dann am Ende die Welt wieder in Ordnung kommt und der Friede wieder hergestellt ist.

Notwendigerweise entstehen beim Erzählen zwischen Erzählenden und Zuhörenden eine Beziehung. Diese Beziehung führt zum fesselnden Einbinden der Zuhörenden und wirkt als Anziehungskraft wie ein Mangnetstein. Das Wesen des Erzählens baut dabei nicht selten auf die Langsamkeit, Entschleunigung und Gelassenheit und bietet eine „befristete“ Rückzugsmöglichkeit aus dem Alltag.

Zuhören als aktiver Prozess

Zuhören ist dabei kein passiver Akt sondern trainiert aktiv den „Muskel der Phantasie“; zuhören ist also ein kreativer und produktiver Prozess durch internationale Wahrnehmung und Modi des Verstehens. Hier kommen verschiedene akustische, visuelle und affektive Stimmuli zusammen. Zudem sind in den Geschichten die Protagonisten oft auch Identifikationsfiguren oder Rollenmodelle, an den die Zuhörenden – oft Kinder und Jugendliche – den Umgang mit Konflikten, Problemen und Komplikationen beispielhaft erlernen können.

Wechselseitigkeit der Erzählungen

Auch wenn die Sprachkenntnisse in den Willkommensklassen nicht besonders gut sind, so verstehen die Kinder das meiste aus den Geschichten. Erzählt werden nicht nur die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Auch die Kinder und Jugendlichen berichten von Märchenfiguren, die ihnen aus Erzählungen von ihren Eltern und Großeltern bekannt sind. Beispielhaft stehen dafür die Geschichten von Juha, z.B. die Geschichten Juha und das Schaf oder Juha und die Schatztruhe.

Ein gutes Ende – Flüchtlinge erzählen (Erzählkunst e.V.)

Daraus entsteht eine Wechselseitigkeit der Erzählungen und die Kinder und Jugendlichen erproben so ihre Deutschkenntnisse. Die erzählten Geschichten stellen dabei ein wichtiges immaterielles Kulturerbe dar. Erzählkunst muss als Kulturgut erhalten bleiben, so Wardetzky.

Das von Wardetzky vorgestellte Projekt wird vom Verein Erzählkunst e.V. organisiert. Mehr zu dem Verein und dem Projekt findet man unter
http://erzaehlkunst.com

Über Markus Marquard 7 Artikel
Sozialwissenschaftler und seit 1997 im Bereich Erwachsenenbildung und Geragogik tätig; seit 2014 Geschäftsführer des ZAWiW der Universität Ulm. Vorsitzender des ViLE-Netzwerks, Vorstandsmitglied beim Netzwerk sii BW und den Danube-Networkers for Europe, aktiv bei der BAGSO.